Donnerstag, 12. Januar 2023

Der bedeckte Tisch


     

Foto: Rose | Pexels

Unsere Profession sind die Produkte für den gedeckten Tisch. Alle diese Produkte entstanden und entstehen aus aktuellem sozialen Verhalten und Essgewohnheiten, die wiederum auf der Verfügbarkeit regionaler Lebensmittel oder auf modischen Ernährungs-trends basieren. Und wer ein wenig in der Geschichte stochert, der wird schnell herausfinden, dass die gerne angeführte mitteleuropäische „Tischkultur“ eigentlich ein Minderheitenprogramm ist …


Tischsitten sind so etwas wie Verhaltensregeln, die dazu dienen, dass alle an einem Mahl Beteiligten die Speisen und den Anlass genussvoll absolvieren können. Dass das nicht nur eine westliche Zivilisationserscheinung war und ist, zeigt sich daran, dass praktisch alle Ethnien derartige Regeln haben, wenn auch in unterschiedlicher Form und aus unterschiedlichen Gründen. 
In asiatischen Ländern etwa darf oft erst mit dem Essen begonnen werden, wenn der älteste Teilnehmer den ersten Bissen verzehrt hat. In Frankreich wird aus Prinzip alles mit Besteck gegessen, einzige und dogmatische Ausnahme: das Baguette darf nur händisch gebrochen werden. Die Zick-Zack-Methode, also Fleisch mit Messer und Gabel zu zerteilen, danach das Messer abzulegen und einhändig mit der zu Gabel essen, kam ursprünglich aus Frankreich und setzte sich speziell in den USA durch. Dabei geht die Mär, dass der amerikanische Mann dabei immer eine Hand unter dem Tisch hielt, um seinen Colt schnell und sicher bereit zu haben … So haben sich im Lauf der Zeit nationale Eigenheiten verfestigt und sind Teil der Identität geworden. Bei so etwas Profanem wie Essen und Trinken? 
Mahlzeiten waren eigentlich immer eine soziale Angelegenheit. In den mittelalterlichen Handwerksbetrieben genauso wie in den Adelshäusern – Dienstboten und Herrschaften speisten im selben Raum. Das hatte natürlich auch sehr ökonomische Gründe – Kontrolle war auch damals bereits ein wesentlicher Bestandteil des sozialen Lebens. Deshalb entstanden im deutschen Sprachraum im 13. Jahrhundert sogenannte „Tischzuchten“, also Lehrgedichte oder Prosatexte über Tischsitten – Vorläufer unseres Fachmagazins?
Und so entwickelte sich die sogenannte Tischkultur immer stärker in Richtung Bankettkultur. In den großen Adelshäuser oder auch in den bürgerlichen Gilden wurde getagt und gevöllert, und die Nachfrage nach Tischgeräten war daher ständig im Aufwind. Selbstverständlich würde heute eine Feministin (zu Recht) sagen: natürlich ohne Frauen. Die schickte man zum Speisen in die Frauengemächer, nur die Dienstboten durften unter sich bleiben. So entstanden auch die ersten Vorgaben für so etwas wie Bankettlogistik, und man erdachte Regeln für einheitliches Servieren und entwarf Ablaufpläne, um zeitnah gemeinsam beginnen zu können. 
Es war und ist daher auch kein Wunder, dass man in der Zeit der Industrialisierung für das Bürgertum, den Mittelstand und später dann für alle Tischgerät erzeugte, das die großen Vorbilder bei Hof nachempfand. Noch war Meissen in Europa das Maß aller Dinge, und erst als z.B. Hutschenreuther die Lizenz für einen Buntdruck des Zwiebelmusters bekam, die neuen Fabriken gestalterisch nachzogen, konnte sich fast jeder dabei auf 130 x 130 cm als Schlossherr fühlen. Denn das Volk wollte speisen wie bei „Kaisers“, und Massenfertigung und Automatisierung machten das auch möglich. Als z.B. ein Essener Krupp-Abkömmling im niederösterreichischen Berndorf eine Besteckfertigung für Neusilber begann, war auch diese Lücke in der Tischkultur-Palette geschlossen. 
Wir sind jetzt beinahe in unserer Zeit angelangt. Es fehlt nur noch das Ei des Columbus – die Modernisierung des Porzellanangebots, das noch immer verhaftet war in Servicegrößen mit aufwendigen Hohlteilen und einem manchmal penetranten Anflug von Pathos. Es war der geniale Arzberg-Designer Hermann Gretsch, der 1936 eine Form für den Alltag schuf – die vielfach preisgekrönte und noch heute anerkannte Form 1382. Eine Form voll beschwingter Einfachheit, und was das ganz Besondere daran war: man konnte jeden Teil einzeln erwerben. Das brachte viele Erzeuger in erhebliche Schwierigkeiten, die in ihren Kalkulationen mit den Kannen und Terrinen den Preis höher halten wollten. Heute kein wirkliches Thema mehr, aber es dauerte lange, bis man akzeptieren musste, dass der Konsument den Umfang seiner Porzellanausstattung selbst bestimmen kann.

(Vorhang)

Wir haben Sie im Zeitraffer ein wenig durch unsere „Branche“ geführt, die noch eine Blütezeit in den 50er-Jahren erlebte, als alle Waren wieder zu haben war und sich große Geister darüber stritten, ob zeitgemäßes Design Pflichtästhetik oder Spitalslook sei. Auch sind die Handelsgiganten, die regionalen und überregionalen Großhändler fast verschwunden oder pendeln als Importeure zwischen Wuhan und St. Pölten. Es ist Alltag eingekehrt im Tischkulturtempel. Kein noch so unbedarfter Konsument erstarrt heute noch vor Ehrfurcht, wenn er das Galaservice des amerikanischen Präsidenten sieht – Porzellan vom Feinsten, mit einem breiten Kobaltband auf der Fahne, mit dem Adlerwappen als Relief, mit Poliergold belegt, dazu eine Goldätzkante mit Ornament. Das hat man früher einmal darunter verstanden, wenn irgendein Kompetenter von „… das Auge isst mit“ gesprochen hat, also vor der Zeit, als Hauben- und Sterneköche im Fernsehen Vorlesungen über ihre Vorstellungen von Tafelkultur hielten. So etwas stammt aus der Zeit, als man sich noch gerne mit schönen Dingen umgab und nicht wartete, was der Tschiboladen so alles im Programm hat …
 Aber was will denn dieser lästige Konsument dann von uns? Von uns, die wir ein lange und ruhmreiche Tradition aufzuweisen haben – was?
Wenn Sie sich in der morgendlichen U-Bahn umsehen, dann sehen Sie eine uniformierte Nation. Winterlich mit Steppjacke in allen Varianten, Jeans und irgendeine Art von Turnschuh. Sie können ziemlich sicher sein, dass ein hoher Prozentsatz auch tätowiert ist. Und ebenso sicher können Sie sein, dass die Leute beim Anblick eines handbemalten Tellers weiche Knie bekommen werden – aber das ist eben die Kundschaft von heute, und die wird in Zukunft zahlenmäßig zulegen. 
Kommen Sie ein wenig näher – das ist jetzt etwas heikel. Was ist, wenn einmal alle heutigen Migranten integriert sind? Werden die auf Schnitzel, Schweinsbraten und Gmundner grüngeflammt umsteigen? Im Gegenteil, sie werden sich ein kleines Stück Heimat, ein paar zarte Wurzeln erhalten. So essen, wie seinerzeit bei Oma, mit dem passenden Geschirr und mit den Originallebensmitteln – wie ja etwa auch die böhmischen, ungarischen, italienischen etc. Migranten der Monarchie ihre Esskultur mitgebracht und in unserer heutigen österreichischen Küche verankert haben. 
Wenn Sie in letzter Zeit einschlägige Statistiken gelesen haben, dann ist ihnen die unglaubliche Prominenz von Berichterstattungen über das Raclette vielleicht aufgefallen – Nummer 1 bei den Silvesteressen in Österreich. Eine Seite Angebot bei Media Markt – für Tischgriller! Dass Fondue immer beliebter wird, ist keine Überraschung, und die Grillsaison ist ja mittlerweile auch kein Lercherl mehr – merken Sie etwas? Der Konsument will wieder gemeinsam essen und kochen. Und das mit einer Gastgeberin, die nicht schuften muss. Etwas, das unsere Mitbürger mit Migrationshintergrund begeistert und das auch in den arabischen Ländern gerne praktiziert wird: das gemeinsame Essen aus einer Schüssel. Oder aus vielen kleinen Schüsseln, aus denen sich jeder nach Lust und Laune bedienen kann und eventuell selber am Tisch grillt. Dieser Zugang hat durchaus auch in Österreichs Alpen Tradition: Grießkoch aus der Pfanne mit einem Mordstrumm Ziegel Butter, gemeinsam gegessen – da fängt der Tag gleich ganz anders an. Es wird archaischer werden, gemeinsam bei Tisch, im Garten oder sonstwo: Eine Art Buffet aufgezogen und den Tisch damit belegt, das könnte die Zukunft sein.
Noch ist für dieses Segment viel Luft nach oben, aber für die Liebhaber edler Porzellankunst wird es nicht besser werden, denn auch als Luxusgut hat dieser Werkstoff  vieles von seinem ehemaligen Glanz eingebüßt. Die Götterdämmerung hat ja schon vor längerer Zeit begonnen – wir haben noch die diversen Konkurse und Übernahmen im Gedächtnis, und wir alle wissen, dass es in Limoges, Stoke-on-Trent und Selb auch nicht gerade rosig aussieht. Über die Situation beim Glas haben wir diskret geschwiegen, alles in allem schwere Zeiten für Markenprodukte. 
Und was geschieht mit den Manufakturen, wenn die Stammkundschaft langsam ausstirbt und Mäzene die Lust verlieren? Als Kulturgut sind Manufakturen zwar in jedem Fall förderungswürdig, aber das ist (leider) eine politische Entscheidung …

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