Montag, 3. April 2023

Manierismus – ein Trend?





























Foto: queen21 | Adobe Stock

Man muss kein besonders guter Beobachter sein, um festzustellen, dass sich der Manierismus auf so ziemlich allen Ebenen breitmacht. Vor allem die Wochenendmagazine der Tageszeitungen berichten verstärkt darüber, und von diesem Trend erfasste Journalisten begeistern sich für Neu­heiten der Mode, der Wohnaccessoires … und natürlich der besonders auffälligen Gastronomie.


Und für so ziemlich alles, was da an Neuem propagiert wird, darf man ruhigen Gewissens die Bezeichnung manieriert verwenden. Dabei gibt das Lexikon eine Reihe von Bedeutungen an, die das Gleiche ausdrücken: gekünstelt, geschwollen, gespreizt, geziert, geschraubt – um vorerst beim Buchstaben „G“ zu bleiben –, aber auch affektiert oder unecht findet sich da bei den Synonymen. Positives drückt allerdings davon kein einziges aus. Und es ist auch eine Tatsache, dass zwar alle diese Begriffe im Prinzip zutreffend sind, nur dass der individuelle Betrachter Objekte unterschiedlich beurteilt: Was dem einen manieristisch erscheint, ist für den anderen avantgardistisch oder sogar aufregend modern. Aber wir wollen ja hier keine Rezension schreiben, sondern lediglich einen Report über dieses Phänomen versuchen – und dabei natürlich in erster Linie unsere Branche in den Fokus rücken.
Alleine diese Woche haben einige besonders schöne Beispiele mein Interesse geweckt und mir zu wohltuendem Ärger verholfen. Nehmen wir einmal Modeberichte: Da gab es eine Reportage über Kleider, die aus Sportgeräten kreiert und produziert werden. Diesmal war Basketball an der Reihe, und Sie dürfen dreimal raten, welcher Teil der Damenoberbekleidung diesen Bällen vorbehalten war? Richtig – natürlich wird dabei die männliche Phantasie angeregt, und Mann träumt vielleicht auch noch von Fußbällen oder im schlechtesten Fall von Handbällen.
Dann war da noch eine Kreation von Frau Beckham – ein Ensemble aus Wischmops, wuschelig und in verschiedenen Grau-, Schwarz- und Brauntönen. Auf dem Kopf ein großer Mop, Vorderteil zwei Mops und der Rock aus mehreren dieser Haushaltshilfen zusammengesetzt. Dazu ein Paar Schuhe – d. h. die Füße steckten überraschenderweise in … Mops.
Zum Abschluss dieser morgendlichen Zeitungstournee gabe es ein Stück der kreativen japanischen Szene: Oberteil und Rock aus belegten Drahtreifen ohne Stoff dazwischen, Unterwäsche in „Nude“ – signiert von einer japanischen Designerin.
Wir sind ja schon einiges gewöhnt und wissen auch, dass aus diesen avantgardistischen Einzelstücken auch Trends entstehen können. Niemand erregt sich heute mehr, wenn im Fernsehen als Pausenfüller eine zu Recht unbekannte Sängerin in zerrissenen Strümpfen, dekoriert mit vielen, vielen Laufmaschen und kurzer Hose, ein ebenfalls zu Recht unbekanntes neues Lied vorträgt. Herren mit Jeans, wo das Hinterteil an den Kniekehlen hängt, singen Standards, und modisch zerrissene Jeans werden sogar in Udo-Jürgens-Evergreens recht populär besungen. Tut mir leid, aber auch die modischen Details gehören in unsere, hier dokumentierte Rubrik. Nicht gebundene Schuhriemen als Modetrend fallen dabei schon fast unter „Was muss man tun, um als debil eingestuft zu werden?“
Über Tattoos wollen wir hier nicht referieren, was allerdings zu unserem Thema passt, ist die Geschichte eines Wiener Hotels, das dringend Personal suchte. Zu guter Letzt versuchte man es mit einer Kampagne, die jedem Neuankömmling gratis ein Tattoo oder Piercing versprach. Dieses Recruiting seit Sommer 2022 war so erfolgreich, dass man es um ein Jahr verlängert hat und dass  es natürlich auch Eingang in die Medien fand.
Was wäre allerdings eine Zeitungsrundfahrt ohne Station bei der Branche machen zu können? In den letzten Jahren waren gute Beispiele fast immer nur bei den Sonderangeboten, Schnäppchen oder im besten Fall bei den Treueprämien zu finden. Diesmal allerdings hatte eine für derartige Exaltiertheiten berüchtigte Tageszeitung selbst eine Selektion vorgenommen und eine Parade bunter Artikel publiziert. Darunter fand sich ein Besteckset 30-teilig um rund EUR 50,– ganz in leuchtendem Violett. Erinnerte mich stark an eine der Ohrfeigen, die wir von Herstellern hie und da erhalten, wenn es sich um zu wenig Ehrfurcht vor Neuheiten ging. In meiner Erinnerung waren es die seinerzeit so intensiv angepriesenen Teller von „Bopla“, zu denen mein Kommentar „… daraus möchte ich nie Spinat essen müssen …“ allgemeinen Unwillen erregte. Aber „Bopla“ ist ja bereits Geschichte. Im oben erwähnten Artikel wurde auch noch das Weinglas „Cheers“ aus dem Hause „Dolce & Gabbana Casa“ angeboten – neongelber Kelch mit rotem Stiel und violetter Bodenplatte, also ideal für alle Weinsorten. Auch der Preis war ansprechend, dieses Glas ist schon um EUR 325,– zu erwerben.
Damit wollen wir uns endgültig unserer Branche und deren Produkten zuwenden – eigentlich aber nicht direkt, sondern eher dem Thema, warum speziell in der Öffentlichkeit und der Gastronomie diese Produkte immer weniger erwähnt oder beachtet werden. Auslöser für diesen Artikel war ein Bericht, den wir im „Standard“ gefunden haben. Da wurde über den neuesten Internettrend berichtet, den eine amerikanische Foodinfluencerin namens Justin Doiron bei TikTok postete, das „Butter-Board“. Dabei schmiert man reichlich Butter auf ein Brett, dekoriert das Ganze mit Feigen, rohen, roten Zwiebeln, geriebener Zitrone, Salz, Honig, Koriander und essbaren Blüten. Dann kratzt man das alles mit einem Brot händisch -herunter und verspeist es. Varianten für den Belag gibt es natürlich praktisch unendlich. Seit der Veröffentlichung im Herbst des Vorjahrs gab es 320 Millionen Aufrufe auf dem Hashtag Butter-Board, und schon der Ursprungsclip verzeichnet auf Anhieb 8,5 Millionen Aufrufe. Erfunden hat die Influencerin diese Bretter nicht, die Idee stammt aus einem Kochbuch des Gastronomen McFadden, ein Gastronom der Slow-Food-Idee. Dass mittlerweile eine Reihe Videos mit Variationen zirkulieren, sei nur am Rande erwähnt – das Ganze hat sich zu einem Trend entwickelt, und wie schon beim meist verbreitetsten Lebensmittel unserer Tage, dem Joghurt, an den Produkten unserer Branche vorbei.
Und da sind wir beim Thema – die Präsentation von Gerichten wird von Köchen und Lebensmittelkünstlern neu gestaltet. In der Wochenendausgabe einer Wiener Tageszeitung erscheint jede Woche ein besonders bemerkenswertes Beispiel (wir hätten Ihnen ja gerne auch Bilder gezeigt, aber diese sind so verflucht teuer, das kann sich eine kleine Fachredaktion leider nicht leisten) an prominenter Stelle. In letzter Zeit sind mir dabei folgende Kreationen besonders ins Auge gefallen: Lunchboxen der Künstlerin Sara Kiyo, Kuchen in Farbe Pantone 2023 der Bloggerin Maria Chechowski, ein klassische Gemälde eines chinesischen Schiffs aus Gemüse von Carl Warner, Früchte, die einen Löwenkopf ergeben, von Sara Lescruwaet-Beachs oder süßes Obst als Eule von Sandy, die damit an die 180.000 Follower erreichte. Wir könnten diese Liste noch sehr lange fortsetzen, aber wir sind eine Fachzeitschrift für GPK, und eines haben alle diese Bilder gemeinsam – es ist auf keinem auch nur der Hauch eines Tellers oder ähnlichen Untersatzes zu sehen. Dafür haben alle erwähnten Gestalter und noch Dutzende andere eigene Websites.
Wenn wir uns die Entwicklung des Services in der Gastronomie ansehen, dann haben wir ja schon oft festgestellt, dass mit der Rationalisierung durch die Abschaffung des „Vorlegens“ und dem Umstieg auf das rationellere und auch kostengünstigere „Tellerservice“ alles begann. Der gedeckte Tisch war eher eine Präsentation der Porzellanindustrie, und die Köche haben sich immer beschwert, dass ihre Gericht optisch in den Hintergrund treten würden. „Das Auge isst mit“ hat sich immer auf die Kreationen der Küche, aber nie auf die Produkte der gPK-Branche bezogen – meinten zumindest die Starköche und bald die ganze Gastronomie. So entstand etwas, das eigentlich paradox ist: die Anrichtemethoden der Köche stehen der früheren Gastlichkeit entgegen, wo nämlich die einzelnen Zutaten (heute gerne Komponenten genannt) so serviert wurden, dass man sie zumindest einzeln im Original verkosten konnte und dann entschied, in welchem Verhältnis man die einzelnen Beilagen zum Hauptgericht aß. Etwas, dass man beim „Vorlegen“ auch mit der Zusammenstellung und der Quantität der einzelnen Zutaten individuell regeln konnte. Das Tellerservice ist für die Gastronomie leichter zu kalkulieren, und man hatte speziell in den schlechten Zeiten die Möglichkeit, genau zu portionieren. Das ist uns aus der Zeit der Lebensmittelmarken geblieben …
Wer heute die unzähligen Kochsendungen verfolgt, kann feststellen, wie „künstlerisch wertvoll“ angerichtet wird. Mit dem Pinsel aufgetragene Soße, kleine Tupfer aus Mayonnaise, zu Türmchen aufgeschichteter Reis und Gemüse oder sogar Salat als Unterlage für Fleisch und Fisch. Egal, dass dann auf den Braten Essig tropft und der Fisch mehr nach Kohl schmeckt als nach Kabeljau − schließlich isst ja das Auge mit. Und das ist uns heilig. In einer Sendung werden die Gerichte der Hobbyköche von den Profis bewertet, und die legen großen Wert auf die soeben kurz geschilderte Anrichteweise. Paradox ist allerdings, dass die Starköche beim Verkosten das ganze Gericht zerstören, um die einzelnen „Komponenten“ fachgerechter beurteilen zu können. Innerhalb weniger Minuten wird dann das ach so wichtige künstlerische Anrichten zu einem konturlosen Eintopf gemacht. Aber in einem sind sich die Sterne- und Haubenköche einig – die Teller, Platten und sonstigen Gefäße müssen nichtssagend sein.
Die beliebten Fernsehsendungen sind natürlich auch Vorbild für den privaten Haushalt, und noch nie gab es so viele Hobbyköche, die sich zwar nicht mit der mühseligen Versorgungs-küche herumschlagen, dafür aber große „Kreativität“ entwickeln. Das sind die, die  dann auch die als treue Kunden der GPK-Branche langsam ausfallen. Denn auch Verfechter einer problemlosen, ehrlichen Küche, wie z.B. Jamie Oliver, haben heute kaum mehr eine Beziehung zur Tischkultur traditioneller Prägung, und servieren in Gefäßen, die sie für ihr Gericht eben am geeignetsten finden. Und das oft nicht sehr appetitlich aussieht.
Das ist allerdings kein geeignetes Ende für einen Artikel, der sich mit „Manierismus“ beschäftigt, daher noch zwei schöne Beispiele: Da gibt es in Wien einen Fitnessklub, der in seinem Buffet den Cappucchino in einer „Vaginatasse“ serviert und den Milchschaum mit einem aus Zimt gestalteten Penis verziert.
Nett ist auch die Mitteilung, dass es in einer britischen Universität eine Studienrichtung zum „Intimitätskoordinator“ gibt. Ein Koordinator sorgt dafür, das sich die Schauspieler und Schauspielerinnen bei Sexszenen korrekt verhalten und innerhalb des Filmteams respektvoll behandelt werden. Das Studium kostet rund EUR 20.000,– pro Jahr und endet mit einem Masterabschluss. Also, wenn diese Nachricht aus einer Gratiszeitung stimmt!! Ja, dann … das alte Rom lässt grüßen!


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