Mittwoch, 8. Juni 2022

Role Models dringend gesucht

 


Foto: Rick Baldwin | Pixabay

Wer derzeit dynamische Werbung für unsere Branche sucht, der sucht leider vergebens. Der dominierenden Handel setzt als Hauptakzent auf „Eyecatcher zu unverschämten Preisen“ und ist damit offensichtlich sehr zufrieden sowie erfolgreich. Ein Animieren zum Verwenden neueren Tischgeräts in traditioneller Sichtweise ist nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil, man hat oft den Eindruck, dass schon der einfachste weiße Teller ein zu konservatives Teil für ­heutige ­Essenssitten ist. Es scheint, als gäbe es eine kommunikative Bewegung, um Tafel­kultur ins ­Museum zu verbannen – und die Gastronomie hätte da sicher nichts dagegen … 

Museum – das ist das Schlüsselwort unserer diesmaligen Betrachtung. Denn genau dort kann man ziemlich deutlich ablesen, wieso Vorbilder – oder aktueller mit dem englischen Marketingbegriff „role models“ bezeichnet – so wichtig, ja sogar existenziell für die Branche sind. Porzellan ist in Europa entstanden, weil man die chinesischen Vorbilder erreichen wollte (und um damit auch viel Geld zu verdienen), Besteck für jedermann entstand, weil man das „fürstliche“ Silber nachahmen wollte, und Gläser wurden mittels vielfacher Werkspionage weiterentwickelt und allen zugänglich gemacht. Aber am wichtigsten für die Entstehung einer blühenden Industrie für den gedeckten Tisch war der Wunsch der Massen, auch so wie die Fürsten, später wie die Großbürger, also wie die Reichen, speisen zu können. Nicht zu vergessen die Rolle, die Nobelrestaurants spielten, die gegen gutes Geld fürstliche Mahlzeiten zelebrierten. 
 

Also – weg von der nüchternen Ernährung, hin zur reich gedeckten Tafel, und wer sich noch an die Nachkriegszeit erinnert, weiß, wie groß damals auch der Wunsch nach attraktiver Tischausstattung war. Lebensqualität und Image durch Tischkultur – das war die Rezeptur für eine heute scheinbar nicht mehr wiederholbare Konjunktur. Auch die Designszene entstand durch Vorbilder, hier waren es vor allem und nach 1945 zuerst die Skandinavier, die den kriegsgeschädigten Mitteleuropäern zeigten, was zeitgemäßes Wohnen bedeuten konnte. Und es wiederholte sich eine fast schon vergessene Leidenschaft – sein Leben mit schönen Dingen zu verbringen, auch bei Tisch. Heute würde man sagen, ein Lifestyle, der eben auch einen schön gedeckten Tisch zum Ziel hatte. Ja, aber das ist leider schon lange her.
Was wir alle, Erzeuger, Händler und Medienleute, aber im Lauf der Jahr übersehen haben, das war die gesellschaftliche Entwicklung. Die Doppelbelastung der Frauen hatte natürlich Auswirkungen auf die Rituale innerhalb der Familie; Hausstandsgründungen erfolgten nicht mehr in traditioneller Form, man zog einfach zusammen und sammelte dann langsam Hausrat. Und Gäste daheim zu empfangen, wurde langsam als Plage statt als Fest empfunden. Die Restaurants dankten es mit entsprechenden Angeboten. Vieles davon wurde untersucht, Faith Popcorn etwa veröffentlichte dazu eine Studie in ihrem Buch. Und auch Helene und Matthias Karmasin publizierten in ihrem Buch „Cultural Theory“ einiges über die Situation im Haushalt und die Veränderungen in der Familie. Auch Zukunftsforscher Horx überraschte die Fachwelt z.B. mit einem Vortrag während der Frankfurter Messe über seine Untersuchung zur „neuen Armut“, die speziell in Paris zu skurrilen Gewohnheiten bei der Jugend führte, wie etwa der Trend zum Essen von Konservenkost direkt aus der Dose als Lifestyle-Element. Dazu wurde selbstverständlich nur aus Flaschen getrunken, beim Schnaps machte ebenso die Flasche die Runde. Alles ein Zeichen dafür, dass der Familientreffpunkt „Gedeckter Tisch“ scheinbar ausgedient hatte. 
Der Rückgang der Hochzeitslisten begann schleichend auch den Handel zu gefährden. Es gibt keine genaue Statistik dafür, aber das Sterben von Betrieben unserer Branche, vom Erzeuger bis hin zum kleinen Nahversorger, wurde spürbar. In den Städten verschwanden traditionelle Handelslegenden aus den A-Lagen der Städte – wo sind sie denn hin, Rasper, Slama, Wahliss, Eisner, Sigrist, Sequin, Ditting etc..? Es gab in den alten Zeiten so etwas wie Marken des Einzelhandels, und diese Handelshäuser sorgten auch als Vorbilder für den Konsumenten. Es gab Saisonen, in denen die Leute auf die neuen Schaufenster warteten, um zu sehen, was aus der großen weiten Welt in den heimischen Markt gekommen war. Die Galerie der Straße war eben zugkräftig genug, um Neuheiten zu präsentieren. Wie stark das in der Praxis beachtet wurde, zeigt die seinerzeitige Aktion der Firma Philips, die in ihrer  Zentrale in Wien eine Art „Schaufensterlabor“ einrichtete, in dem alles, was es an Beleuchtung gab, ausprobiert und kombiniert werden konnte. 
Nun es hilft nichts, diesen Zeiten nachzutrauern, denn still und heimlich hat sich Tischausstattung (unsere Branche hat eben noch immer keinen einheitlichen Namen) auch aus den Wunschlisten der Konsumenten ziemlich spürbar verabschiedet. Die Vorbilder in der Gesellschaft gibt es nicht mehr, die Medien sind mit Mode und Innovation voll ausgelastet, und nur ein aggressiver Handel nutzt die „schönen Dinge des Lebens“, um mit Kampfpreisen Lockangebote zu machen. Bleibt eigentlich für eine Bewerbung von Tischkultur nur mehr die Marktkommunikation als Weg übrig – aber wer beschreitet den schon?
Eine der schönsten Erinnerungen ist für den Schreiber dieser Zeilen die Begegnung mit Knorr. Dieses Unternehmen versuchte seine (wienerisch Packerlsuppen genannten) Erzeugnisse aufzuwerten und plante im damals neuen Medium Fernsehen eine Serie über den gedeckten Tisch und natürlich seine eigenen Convenience-Produkte. Als Experte engagiert, stellte ich für die verschiedenen Spots das Geschirr zusammen, war bei den Dreharbeiten dabei und korrigierte streng jeden Fehler beim Gedeck. Das war der Ursprung der Idee, dass der Einzelhandel eigentlich der Experte für heimische Tischausstattung sei. Später haben wir mit dieser Zeitschrift den „Tischkulturpreis“ erfunden und ihn rund zehn Mal in Österreich, der Schweiz und in Partnerschaft in Deutschland veranstaltet. Ziel war es, den mittelständischen Handel als kompetenten Partner ins Gespräch zu bringen. Der Handel sollte dabei Vorbilder nominieren, die dann ausgezeichnet wurden. Und so zeichneten wir die Lauda Air für ihr Bordservice aus, Red Bull für sein (leider nie in Serie gegangenes) Glas in (Red Bull-)Dosenform, Fürstin Hohenberg für die Ausstellung in Schloss Seitenstetten, wo Diplomatengattinen nationale Tische deckten, ebenso die k.u.k. Hof- und Silberkammer, eine TV-Moderatorin der Schweiz, Maggi für einen Design-bewerb usw. Der Erfolg und die Beteiligung des Handels war überschaubar, und nur als Werbung für unser Magazin war der Aufwand schlussendlich zu hoch. Aber es war ein Versuch, Vorbilder in den Fokus zu stellen und zu bedanken. Andere Versuche, eine Gemeinschaftswerbung auf die Beine zu stellen, scheiterten an den Eigeninteressen der Hersteller, die nicht einsahen, dass sie für etwas bezahlen sollten, wo alle davon profitieren …
Wir sind in der Jetztzeit angekommen. Jetzt regiert anscheinend nur mehr der Rabattsatz in der Marktkommunikation. Was man sonst noch über die Produkte der Branche in der Öffentlichkeit sieht, ist eher zum Abgewöhnen. Wir haben sicher alle in der Kindheit über Tischsitten und gutes Benehmen bei Tisch gehört und uns je nach Alter auch darüber geärgert. Aber bis heute hat man nichts davon gehört, dass das alles abgeschafft worden wäre. In vielen Restaurants knallt man uns den berüchtigt „kreativ“ angerichteten Teller vor die Nase und nennt das dann „das Auge isst mit“ – wer es nicht glaubt, ist eingeladen, sich die einschlägigen Kochsendungen im deutschsprachigen Raum anzusehen. Besonders nett fanden wir ganz aktuell einen Artikel über eine Charity-Veranstaltung, bei der das Dessert ganz ohne Teller direkt auf den Tisch „serviert“ wurde, man nannte das „künstlerische Freiheit“. „Die „VIP naschten den Nachtisch vom Tisch …“ betitelte eine Zeitung diese Aktion und „… ein Dessert-Traum mit Früchten und Schoko-Mousse“ – na, dann Mahlzeit! Und wer sich die Mühe macht, auch die TV-Werbung zu beobachten, der kann sich an vielerlei Beispielen delektieren: Da werden Palatschinken einfach in die Hand genommen und fröhlich wird davon abgebissen, da schlecken attraktive Models den Teller ab, da essen zwei Teenager gemeinsam Cremespinat mit Strohhalmen aus einer Schüssel, Kinder mit Pommes in der Nase lassen sich mit Fischstäbchen füttern. Und über allem schwebt die Gewohnheit, Getränke direkt aus der Flasche oder Dose zu trinken. Diese früher den Maurern vorbehaltene Trinkweise setzt sich in der Werbung anscheinend speziell für Frauen fort, denn wer jugendlich flott wirken soll, der trinkt sein Mineralwasser direkt aus der Plastikflasche. Die Herren stoßen dazu ganz elegant mit den Bierflaschen an. Tischkultur 2022 in der Werbung …
Es ist keine Schande, sich von Ritualen zu verabschieden, und steifes Hofzeremoniell passt sicher nicht in unser Zeitalter, aber ein Frage sei gestattet: Wenn die ganze Produktpalette der Porzellan- oder der Besteckindustrie und der Glashersteller in Frage gestellt wird, warum steht niemand aus diesen Industrien auf und wehrt sich gegen den Trend, dass man ihre Produkte derart versteckt; dass man den Eindruck gewinnt, sie hätten für unsere Lebensweise, auch für unsere Lebensqualität keine Bedeutung mehr? Die Werbeindustrie verwendet stets nur Darstellungen, die für den Verkauf  ihrer Kundenprodukte erfolgreich erscheinen, aber die GPK-Branche tut nichts, gibt keinen Laut von sich, wenn man ihre Produkte so massiv in Frage stellt. Und wenn sich Herr von Knigge noch so oft im Grabe dreht, neue Vorbilder sind trotzdem weit und breit nicht in Sicht …

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