Dienstag, 10. August 2021

Mythos Terrine

       



Foto: Sonja | Adobe Stock 

Wenn sie aufgetragen wurde, dann war das gemeinsame Mahl eröffnet. Nahm der Haushaltsvorstand dann den Schöpflöffel zur Hand, konnte man die Erwartungshaltung vor allem der jüngeren Teilnehmer förmlich spüren. Geschichten aus der Zeit, als das Bürgertum höfisches Zeremoniell imitierte, aber auch späterer Epochen, als Lebensmittel Mangelware wurden und daher der Verteilung größte Bedeutung zukam. Im Mittelpunkt stand dabei immer der Stolz jedes Porzellanservices – die Terrine.

Als die Porzellanfabriken seinerzeit begannen, Service zusammenzustellen, da studierte man genau die Gewohnheiten der Familien, deren Größe, die durchschnittliche Zusammenstellung der Menüs und deren Komponenten. So entstand in unseren Breiten die Zusammenstellung für sechs Personen und auch bei den Speiseservicen die Ausstattung mit 18 Teilen zur Verwendung und sechs Teilen zum Servieren. Etwas, das sich bis in unsere Tage erhalten hat, wenn sich auch der Schwerpunkt zu sogenannten Sammelservicen verschoben hat, wo der Konsument eben nach seinen Vorstellungen die Teile zusammenstellen kann. Speisesets in unterschiedlichsten quantitativen Zusammensetzungen, Formen und Dekoren findet man heute speziell in den Onlineshops in unzähligen Variationen. 

Aber zurück zur klassischen Zusammenstellung, die ja dazu gemacht wurde, um den gutbürgerlichen Essensgewohnheiten gerecht zu werden. Nebenbei bemerkt ging man allerdings auch davon aus, dass die Verwender derart gehobener Tafelkultur entsprechendes Hauspersonal zur Verfügung hatten (Anekdoten über diese Gewohnheiten findet man in Torbergs „Tante Jolesch“, falls irgendjemand in unserer Leserschar mehr darüber wissen möchte.). Die Basis dieser Tafelkultur bestand darin, dass alle Teilnehmer an der gemeinsamen Mahlzeit individuell behandelt werden konnten. An dem vorgegebenen Menü war nicht zu rütteln, aber jemandem mehr Fleisch, weniger Kartoffeln und kein Gemüse zu geben, da waren die Teilnehmerwünsche steuerbar. Man legte auch im Heim vor, was später in den Zeiten, als Lebensmittel zur Mangelware wurden, besonders wichtig war. Denn die Frau des Hauses achtete darauf, dass der schwer arbeitende Gatte und die im Wachstum befindlichen Kinder ausreichend ernährt wurden. Es ist nicht übertrieben, wenn irgendjemand berichtet, dass in diesen Zeiten Mütter manchmal hungerten. Aber grundsätzlich wurden sämtliche Komponenten, vom Braten über die Knödel, die Kartoffeln, das Gemüse oder auch Salate oder Soße aufgetragen. Das geschah auf Platten, in Schüsseln und z.B. auch in Gefäßen, die man heute kaum mehr findet, wie eine Sauciere und natürlich die Terrine, die auch optisch auf dem gedeckten Tisch eine dominierende Rolle einnahm. 
Ernährung war immer auch eine Frage des Einkommens, Fleisch war Luxus, Geflügel oder Fisch privilegierter Luxus, Wild schon eher ein Thema für regionale Literatur. Daher kam der Suppe, also einem Gericht, das beim Kochen vielfach als Nebenprodukt gewonnen wurde, eine besondere Rolle zu. Sie trug zur Sättigung bei, wenn die anderen Möglichkeiten eben nicht so opulent aufgetragen werden konnte. Mit einfachen Einlagen konnte man den Sättigungsgrad noch steigern und mit Wasser auch noch ein wenig ausdehnen. Die Terrine, oft auch Suppenterrine genannt, stand dabei im Mittelpunkt, Symbol für ein gemeinsames Mahl, für die Familie.
Natürlich sprechen wir hier nur von unseren Breiten. Tischkultur, im Sinne unserer Zeitschrift, kommt ja global in vielen Varianten vor und ist in ihrer Ausformung immer auch ein Abbild der Gesellschaft. Und mit den Veränderungen der Gesellschaft gehen auch die der Tischsitten, der Essengewohnheiten und Familienrituale einher. Da sind seit der Zeit, als die erste Terrine gegossen wurde, bis zu den Billigangeboten an Speisesets in Supermärkten schon ein paar Tage vergangen. 
Bezüglich gegossen! Die Vorlegeteile beim Speiseservice mussten in den Anfängen gegossen werden. Speziell die Terrine und die Sauciere sind heute noch Produkte dieser Technik. Das gilt weitgehend auch für alle Kannen und Gießer. Und die Teller machten den Preis am Markt. Teller wurden immer günstiger, dank der Automatisierung auch in großer Stückzahl verfügbar. Es war die Gastronomie, die murrte und auf Platten aus Metall, die es günstiger gab, auszuweichen begann. Terrinen waren ohnehin nie notwendig, und Saucieren und Gießer konnte man auch von den großen Besteckerzeugern erhalten. Im privaten Bereich kamen Kaffeemaschinen mit integrierten Isolierkannen auf den Markt, die so ziemlich alle Kannen überflüssig machten. 
Irgendwann schlug das auch in der Porzellanindustrie durch und führte zu Umsatzeinbußen und Veränderungen in der Struktur der Bestellungen. Auch hier hat speziell die deutsche Porzellanindustrie eine Fülle an technischen Verbesserungen eingeführt und mit den isostatischen Pressen konnte man sogar die Servierplatten wieder konkurrenzfähig machen. Das geschah alles vor dem Hintergrund, dass in den privaten Haushalten noch an traditionellem Tischdecken festgehalten wurde. 
Aber war dies wahr? Die Terrine wurde zu einem mythischen Gerät der Vergangenheit, in vielen Filmen noch ein Requisit, um Familienleben zu illustrieren, in Slapstickstücken ein komisches Ding, mit dem so mancher Butlermime zu stolpern hatte – mit einem Wort: ein Relikt aus der „guten, alten Zeit“, in der die Hausfrau voller Fröhlichkeit das Tischdecken anordnete oder in einer anderen Gehaltsklasse selbst vornahm. Aber das endete sehr bald. Wie z.B. Faith Popcorn in ihrem Report feststellte, wurde in Zeiten der Doppelbelastung der Frauen das traditionelle, gemeinsame tägliche Familienessen zur Schimäre. In der Realität löste sich der Verband der Familienmitglieder in einzelne Interessengruppen auf, die nur eines im Sinn hatten: das zu essen, was ihnen schmeckte und nicht das, was in der Familie angeboten wurde. Vater will Steak, Mutter Salat, Tochter knabbert Diät und Sohn schaufelt Fast Food in sich hinein. Und das alles zu selbst bestimmter Zeit bzw., wie es die Arbeitswelt zulässt.
Arme Terrine – du wurdest innerhalb weniger Hochkonjunkturjahre zu einem Museumsstück, zum Symbol einer Zeit, als gemeinsame Mahlzeiten in intimer Atmosphäre zur Lebensqualität gehörten. Wo man Freunde noch zu sich ins Heim einlud, um sie zu bewirten. Wie lässt Rex Stout seinen Gourmet-Detektiv Nero Wolfe sagen: „Ein Gast ist der Diamant am Sammetkissen der Gastlichkeit“ – heute sind es allerdings nur mehr ein paar Menschen, die man aber auch lieber ins nächste Restaurant als in die eigene Wohnung einlädt. 
Mit dem Verschwinden oder besser gesagt mit dem Verblassen der Terrine als wesentlichem Teil der Tischausstattung endete auch die Ära, höfisches Zeremoniell allen Schichten zugänglich zu machen, eine individuelle Verteilung der gemeinsamen Mahlzeiten zu praktizieren. Es begann der Weg hin zum eindimensionalen Tellerservice.
Stark an dieser Entwicklung beteiligt war die Gastronomie. Diese Servierart, nämlich vorzulegen, war äußerst personalintensiv und daher auch kostspielig. Auch waren dafür mehrere Geräte notwendig. Wenn man unsere legendäre Terrine nicht brauchte, so servierte man Suppe in warmhaltenden Tassen und goss sie erst bei Tisch in die Teller. Die Einführung der Mikrowelle und des Dampfgarens tat ein Übriges: den Teller hineingestellt, gedrückt und nach wenigen Augenblicken war das Gericht schon servierfertig. Was das an Einsparungen bedeutet, braucht man nicht extra erwähnen. Und dass das Servierpersonal die fertigen Teller hinknallte, stieß eigentlich nur mehr empfindlichen Gästen einer aussterbenden Gattung auf.
So entwickelte sich auch im privaten Umfeld diese neue Tischkultur. Heutige Paare wären erstaunt, wenn man ihnen zur Hochzeit eine Terrine schenken würde, vorausgesetzt, sie wüssten, was das eigentlich ist. Wenn man Kochsendungen sieht, wie z.b. die populäre „Küchenschlacht“ in Deutschland, ist man etwas erstaunt, wenn die Leute in Häferln oder Schüsseln Saucen zu den Teller stellen. Noch nie sah man jemanden, der dazu eine Sauciere verwendet, offensichtlich ist so etwas im Fundus des Senders gar nicht vorhanden. Man könnte noch lange darüber philosophieren, warum die Menschen unserer Zeit diese Produkte nicht mehr verwenden, nicht mehr brauchen, aber lohnt sich das? Offensichtlich sehen sie für sich darin keinen Nutzen. Und die Hersteller haben über Jahrzehnte den Nutzen ihrer Produkte anscheinend nicht glaubhaft publiziert. Die Erzeuger der ersten Terrinen haben sicherlich lange nachgedacht, bis sie ein derart aufwendiges Ding in die Produktion aufgenommen haben und haben es auch geschafft, dass für den Großteil der Konsumenten klar war, dass dieses Ding ihre Lebensqualität ein wenig verbessert.
Heute stilisieren sich die Hauben-, Sterne- und sonstige Köche zu Popstars und propagieren „Das Auge isst mit“. Damit gemeint sind surreale Serviermethoden, wie z.B. das Püree mit dem Pinsel am Teller zu verstreichen, Mayonnaise mit dem Spritzbeutel zu verteilen uvm. Ein paar Punkte von einer Würze sehen optisch auch recht gut aus. Das Auge wird also gut gefüttert. Auf dem Teller hingegen wird das hochgelobte Gericht beim Essen automatisch zum Eintopf, bei dem sich der Essig des Salats friedlich mit der Bratensoße vermählt. So wird serviert, und damit verschleiert man gerne, dass diese Serviermethode die gleiche ist wie in Gefängnissen, in Kantinen, dem Militär und sonstigen Ausspeisungen – allerdings trennen die alle noch die einzelnen Komponenten, damit ihre „Gäste“ nicht einen Eintopf am Teller haben. Aber dafür bleibt dort das Auge „hungrig“ …

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