Mittwoch, 30. November 2022

Wer ist denn „wir“?

    


Foto: Wayhome Studio | Adobe Stock

Immer, wenn wir hier in diesen Spalten von der „Branche“ schreiben, meinen wir … ja, was ­meinen wir damit eigentlich? Alles, was es über Tafelkultur, Tischgerätschaft, Haus -und ­Küchengeräte, über Glas und die vielen Accessoires inklusive Elektrokleingeräte, vom Kunsthandwerk ganz zu schweigen, aktuell zu berichten gibt, das haben auch wir berichtet. Aber was ist diese Branche wirklich? Rein rechtlich gehören die einzelnen Gruppen ver­schiedenen Wirtschaftssparten an, haben für ihr Personal eigene Kollektivverträge und leben z. B. bei der Herstellung ihrer Produkte in verschiedenen Welten. Wo also ist da das „wir“? 


Es ist schwierig, auf diese an sich nicht so wichtige Frage eine halbwegs befriedigende Antwort zu finden. Es schwirren in den verschiedenen Publikationen verschiedene Begriffe herum, so etwa der Edelhausrat oder der Sammelbegriff Haus- und Küchengeräte, oder, wie bei der bisher einzigen Gemeinschaftswerbung, „Tisch- und Raumkultur“. Auch die Messen und die Fachzeitschriften tun sich mit dem Begriff „Branche“ schwer: Sie heißen TrendSet, Ambiente, Interieur, Creativ oder Ornaris, oder bei den Magazinen eben „Die Vitrine“, „stil und markt“ „Porzellan und Glas“ oder seinerzeit auch „Tisch und Küche“. Da ist es schwer, in der Werbung nur am Namen das Produktspektrum zu erkennen. Dabei gibt es auch bei den verschiedenen Messen oder entsprechenden Fachzeitschriften eine Menge an Produkten für den gedeckten Tisch oder den Hobbykoch zu finden, von den Wohnmagazinen ganz zu schweigen. Wir haben einst mit einem großen Verlag ein gemeinsames Projekt herausgebracht und es mangels besserer Vorschläge „Tisch & Flair“ gennnt, was die Kollegen unseres Partnerverlags zu intensivem Kopfschütteln angeregt hat. Denn man sollte doch auf den ersten Blick erkennen, was ein Medium bietet. Wenn sie besonders leidensfähig sind, können sie auch kontrollieren, wo unsere „Branche“ in der Kammer repräsentiert ist – eben bei der keramischen Industrie, den Glasfabriken und der Metallindustrie. Natürlich auch bei Kunststoffen und den Heimtextilien, von den Manufakturen, den Töpfern, den Kunsthandwerkern oder den Elektrogeräteherstellern ganz zu schweigen.
Wer jetzt fragt, warum uns dieses Gewirr stört, der bekommt eine ganz einfache Antwor: weil es keine Instanz gibt, die existenzgefährdenden Entwicklungen, denen diese Branche permanent ausgesetzt ist, entgegentritt; also die ganze „Branche“ verteidigt und nicht nur sein ureigenstes Teilgebiet. Und da sind wir als Medium einer „Branche“ auch gefordert oder sogar verpflichtet, Fragen zu stellen und negative Trends aufzuzeigen – was wir seit vielen Jahren auch tun –, aber es gibt keine Instanz, die diese „Branche“ vertritt, daraus Schlüsse zieht und eventuell auch bereit ist, für ihre Existenz zu kämpfen.
Nehmen wir nur einmal den Bereich „Gedeckter Tisch“ mit den Warengruppen Porzellan, Glas, Besteck und Tafelgeräte, Heimtextilien und Accessoires verschiedener Materialien. Und gehen wir etliche Jahre zurück, wo auch schon spürbar war, dass die Konsumenten diesem Bereich ihres Lebens nicht mehr sehr interessiert gegenüberstanden. Also man sah den Absatz der Produkte gefährdet und erfand eine Finanzierungsmethode: Industrie und Handel zahlten bei jedem Verkauf bzw. Einkauf zwei Prozent in die Kasse der Gemeinschaftswerbung. Um ein Budget zu erstellen, meldeten die Hersteller den zu erwartenden Umsatz an eine neutrale Stelle (in Österreich waren das wir), und eine Werbeagentur wurde mit der Kampagne beauftragt. Lassen wir die erfreulichen Dinge kurz aufleben: wir hatten Rundfunkdiskussionen und Interviews z. B. mit dem Beobachter der österreichischen Seele, Professor Ringel, der die Wertigkeit einer Kaffeetasse, die er mit seiner Frau am Morgen nach der Hochzeitsnacht benutzt hatte, erklärt hat, oder mit Designerguru Matteo Thun über Wichtigkeit zeitgemäßer Ausstattung – und wir hatten auch Rundfunkwerbung! Nicht sehr gute und sicher mit ein Grund, warum das ganze starb. Sie war der Versuch einer Absatzwerbung (ein Woche Urlaub in Tirol oder ein Kaffeeservice fürs Leben … oder so ähnlich). Und das war der eigentliche Unsinn, dazu im Niveau eher diskontermäßig. Die Markenführer begannen, das Projekt zu hinterfragen, wollten nicht, dass die Mitbewerber auch von ihrem Geld profitierten, und die Verwaltung und vor allem Kontrolle des Ganzen wurde bald so teuer, dass das eigentliche Budget nichts mehr hergab – Exitus schon nach relativ kurzer Zeit. Das wirklich Gute war nur die Gründung einer gemeinsamen Werbefirma und der Wille, den gesellschaftlichen und kommerziellen Entwicklungen entgegenzuwirken. Und da vor allem dem immer stärker spürbaren Desinteresse dieser Konsumentengeneration an der von uns gerne als „die schönen Dinge des Lebens“ bezeichneten Produktpalette – also unserer Branche. Hier ein paar Indizien, denn diese Situation haben wir auch heute noch – nur viel stärker.
Die Veränderungen in der Gesellschaft, vor allem mit der Doppel- und Dreifachbelastung der Frauen, veränderten auch die Essgewohnheiten und familiären Rituale gewaltig. Es war nicht so, dass der „Knigge“ einfach abgeschafft wurde, aber das Zelebrieren von Mahlzeiten trat in den Hintergrund und wurde durch einfache, praktikable Methoden ersetzt. In ihrer Studie schrieb u. a. die Amerikanerin Faith Popcorn auch darüber, dass in einer modernen Familie die einzelnen Familienmitglieder kaum dazu zu bringen wären, dasselbe Gericht zu essen. Als Beispiel: in einer vierköpfigen Familie mit zwei Teenagerkindern aß der Junge einen Burger, die Tochter eine Pizza, die Hausfrau Salat und der Hausherr ein Steak, alles gedeckt durch Werbung und Ernährungswissenschaft, sprich, durch die in den Medien verbreiteten Tipps. 
Mit der Verbreitung der Mikrowelle kam der nächste Schub – man brauchte Gefäße und kein ausgetüfteltes Speiseservice mehr, um Alltagsmahlzeiten zu bewältigen. Die noch aus der Tante Jolesch-Zeit stammende gesellschaftliche Pflicht und Lust, Gäste einzuladen, versandete zu Recht langsam, aber sicher, an der erwähnten Belastung der Frauen, aber auch daran, dass es immer schwieriger wurde, die einzelnen Personen mit einem einheitlichen Menü zu verwöhnen. Also verlegte man die unvermeidlichen Familientreffen eher ins Restaurant. Ein Indiz für diese Veränderung ist auch in einer Statistik vom Silvester 2021 zu finden („Was essen die Österreicher zu Silvester?“), wo die ersten Plätze mit Raclette vor Fondue und Brötchen belegt werden. Alles Speisen, bei denen niemand wie verrückt kochen und servieren muss und wo man ungestört feiern kann. 
Apropos Restaurant! Auch hier hat sich in der Vergangenheit ein Veränderung vollzogen, die die gesamte Branche zu spüren bekam. Es war früher üblich, dass Hauptgerichte auf Platten und Schüsseln serviert wurden, um den Gästen individuell große Portionen und Kombinationen zu ermöglichen, ein typischer Aspekt der damaligen Esskultur. Das fand auch im privaten Bereich seinen Widerhall – Speiseservice und Besteckgarnituren enthielten einen relativ großen Anteil an sogenannten „Vorlegeteilen“. Diese waren meist größer, im Fall von Porzellanplatten in der Erzeugung kompliziert und wurden z.B. in der Gastronomie meist durch Metallplatten ersetzt. Mit der systematischen Umstellung vom Platten- zum Tellerservice gingen alle diese Teile verloren. Sauciere, Saucenlöffel, Vorlegebesteck und Bratenplatten, Beilagenschüsseln etc. wurden überflüssig, so wie später mit der Verbreitung der Fischstäbchen auch das Fischbesteck an Bedeutung verlor. Dazu kam, dass man auch keine Rechauds mehr verwendete, um die Hauptspeise warm zu halten – beim Tellerservice muss man sich beeilen, um den letzten Bissen noch warm „speisen“ zu können.
Im Zusammenleben wurden die Sitten lockerer, unverheiratet zusammen ein Heim zu gestalten, wurde durchaus üblich und akzeptabel. Die Formel gemeinsam zu „Tisch & Bett“ war auch ohne Trauschein gelebter Alltag. Damit kamen Traditionen wie die Aussteuer und auch Hochzeitslisten auf die Liste gefährdeter Praktiken. Sie können gerne regional festzustellen versuchen, wie die Fachgeschäfte das verkraften. Wenn sie noch welche finden – in Deutschland sollen ein paar Tausend GPK-Läden das Handtuch geworfen haben. Wir können aber auch gerne Wien und Zürich als Beispiel hernehmen, wo es bis vor etlichen Jahren in den Zentren renommierte Geschäfte gab, die den Ruf und das Image dieser Branche besonders gut repräsentierten. Darunter waren Händlernamen, die zu Marken wurden, wie z.B. Rasper, Wahliss, Slama, Sequin-Dormann oder Ditting, alle nur mehr Gesprächsthema für Branchen-Veteranen …
Wir könnten noch viele Beispiele hervorzaubern, könnten darauf verweisen, dass es heute fast keine Hersteller von Porzellanfiguren mehr gibt, dass ein großer Teil europäischer Besteckfabriken ihre Existenz aufgegeben oder ihre Erzeugung in Länder verlegt hat, die große Erfahrung in der Herstellung von Stäbchen haben. Wir könnten auch darauf verweisen, dass vor der Wende in der großen deutschen Porzellanin-dustrie noch über 60.000 Leute beschäftigt waren – und heute? Von einzelnen Konkursen unsinkbarer Branchen-Schlachtschiffe soll auch nicht berichtet werden, denn das sind alles nur Indizien, dass es diesem Wirtschaftszweig nicht sehr gut geht. Aber droht wirklich das Schicksal der Dinosaurier?
Wir möchten nur ein Frage an alle stellen, die in dieser Branche arbeiten, planen und vielleicht sogar emotional mit ihr verbunden sind – meinen Sie, dass man gegen diesen Negativtrend nichts tun kann? Nehmen sie einmal Folgendes an: Jemand geht massiv in die Öffentlichkeit mit der Idee, dass nur eine Hängematte den besten Schlaf garantiert, wahnsinnig gesund ist und zuverlässig getestet die zeitgemäße Art der Regeneration ist. Diese breit angelegte PR-Kampagne wird natürlich unterstützt von medizinischen Experten und Prominenten aus der Showbranche, die auch davon berichten, wie gut ihr Liebesleben geworden ist, seit man nicht mehr in der Nacht aufeinander klebt. Meinen Sie, dass die Matratzenhersteller, die Möbelfabriken und auch die Bettwäschehersteller einfach den Mund halten und sagen würden „Na, da kann man halt nichts machen?“ Die würden so viel Druck machen, dass man sicher sogar im Parlament darüber diskutieren würde. Und die PR-Agenturen würden Hochkonjunktur haben.
Aber unsere Branche lässt sich täglich in den TV-Spots der Werbung ausrichten, dass ein Glas ein überflüssiges Relikt ist, dass mit den Fingern zu essen die absolute Genussfreiheit ist, dass die Kinder essen sollen, wie es ihnen gefällt, und dass Tischkultur im Prinzip eigentlich blöd ist. Dass die diversen Hauben- und Sterneköche Serviermethoden auf Brettern und ähnlichem erfinden und dass das den Lifestyle-Journalisten ganze Spalten wert ist, rundet unser Dilemma noch so richtig ab. Oder schauen Sie einmal, was die Foodblogger so alles zum Thema Esskultur zu bieten haben – da lässt doch das alte Rom grüßen! Wir brauchen keinen neuen „Knigge“, nicht einmal „Tischkultur 2.0“, wir brauchen nur etwas effektive Öffentlichkeitsarbeit, um die Philosophie der Tisch- und Küchenausstattung, also unserer Produkte, so darzustellen, dass die Menschen merken, was die zur Lebensqualität beitragen … oder glauben die Hersteller selbst nicht mehr daran?

Mit diesem Artikel beenden wir unsere  Serie „Tischkultur 2.0“ und hoffen, einen  kleinen Impuls gesetzt zu haben.

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