Montag, 8. Oktober 2018

Zauberwort Frequenz

Foto: Christian Müller | Fotolia.com 

Egal, in welcher Gegend eines Orts jemand einen Laden aufmacht – immer beginnt es mit sogenannten „Zählungen“: Wann und wieviele Leute, mithin potenzielle KundInnen, an diesem Standort vorbeigehen. Ganz besonders Akribische unterscheiden noch zwischen Frauen und Männer bzw. Kindern. Und auch wenn Sie es vielleicht nicht glauben, die Ergebnisse sind bei anstehenden Verhandlungen um den Mietpreis maßgeblich. Wie man allerdings einen stark ­frequentierten Standort günstig aushebeln kann, das zeigen die jüngsten Entwicklungen …


Dabei muss man gleich eines vorweg schicken: Selbst Ladenketten bedienen sich nicht mehr so pedantisch dieser Methode, es hat sich in den letzten Jahrzehnten eben einiges verändert. Fußgänger- und  Begegnungszonen haben auch ohne Zählungen einen Startvorteil und so etwas wie einen Fixpreis, abgestimmt auch ein wenig auf die Kaufkraft des Standorts. Auch wird dann hier meist relativiert, denn mit der (Un)Sitte des „Unverbindlich empfohlenen“ Kaufpreises hat die Vorstadt keinen Preisvorteil in ihrer Kalkulation durch (wahrscheinlich) günstigere Standortkosten. Die Folge: Wenn man schon in einer Großstadt einkaufen geht, dann geht man meist gleich in die City shoppen. Übrig geblieben sind daher in manchen Gegenden meist nur mehr Nahversorger und Dienstleister mit Laden. Auch so mancher Familienbetrieb konnte sich durch persönliches Engagement und eine im „Grätzel“ vorhandene Tradition halten. Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen, aber statistisch gesehen in zu vernachlässigender Größenordnung. Bezüglich Dienstleister mit Laden – das waren meist Glasereien oder Spenglereien, die einen Standort brauchten und daher ihr Büro mit Auftragsannahme auch mit Warenverkauf verbanden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass speziell bei den Familienbetrieben (und das waren die meisten) auch die Frau des Hauses den Einzelhandel führte. In Zeiten wie diesen kämpften diese oft sehr erfolgreich kombinierten Handelsbetriebe natürlich auf verlorenem Posten, und in vielen Fällen wurde aus dem Handwerksbetrieb ein Großbetrieb im Baugewerbe oder Ähnliches. Auch waren diese Betriebe oft in eigenen Häusern und in Gegenden stationiert, die irgendwann zur Stadtmitte und zur Fußgängerzone wurden. Die dabei explodierenden Immobilienpreise brachten es mit sich, dass diese gewachsenen Gewerbebetriebe mit dem Verkauf des Hauses oder nur des Ladens mehr lukrierten als mit der Fortführung des Einzelhandelsgeschäftes. Und für den Handwerksbetrieb war eine A-Lage sowieso absolut überflüssig.

Hier sehen wir bereits eine der ersten Zäsuren im GPK-Bereich. In den Zeiten der Hochkonjunktur, des Nachholbedarfs, drängten auch Filialbetriebe in die Handelsszene – mit allen Vorteilen und mit entsprechend aggressiver Werbung, die nur eine Zielrichtung hatte: den Leuten den familiären, persönlichen Kontakt in den etablierten Geschäften durch Markenimage und Aktionsverkäufe „madig“ zu machen. Sie verstärkten die Frequenz der Standorte zusätzlich durch kontinuierliche Absatzwerbung. In den Anfängen der Fußgängerzonen kam es zu oft paradoxen Ergebnissen, wenn einzelne Ketten mit ihren Läden eine Art Blockadepolitik betrieben. Ein kurioses Ergebnis gab es z. B. in Wien, als Kärntnerstraße und Graben zu Fußgängerzonen wurden und auf diesem nicht unbedingt riesigen Gebiet insgesamt vier Eduscho-Läden eröffneten. Die Rechnung ging aber für fast alle Läden, die in derartige Standorte investierten, auf. Die Frequenz stieg faktisch über Nacht, und wer den richtigen Riecher für sein Sortiment hatte, der konnte sich dabei auch noch als Einzelkämpfer durchsetzen.
Wenn wir allerdings heute die Struktur all dieser Standorte im D-A-CH Markt ansehen, dann fällt uns Insidern natürlich auf, dass trotz dieser in den Anfängen so hervorragenden Frequenzen die GPK-Läden aus den A-Lagen vielfach verschwunden sind. Das gab es auch in anderen Branchen, aber die sind wie z. B. der Lebensmittelhandel auf Alternativen ausgewichen – davon später mehr.
In dieser Zeit war die einzige Werbung meist nur das Schaufenster, entsprechend viel wurde daher in dieses Werbemittel investiert. Das „Window Shopping“ wurde zum saisonalen Fixtermin, speziell wenn im Herbst die Häuser ihre neuesten Fenster öffneten, denn man machte damals die Leute neugierig, indem man die gesamte Schaufensterfront verhüllte. Das Thema „Visual Merchandising“ wäre eigentlich eine eigene Geschichte, die heute fast schon nostalgische Anklänge hätte. Mit diesen Standorten und dem entsprechende „Eye Catchern“ erreichte man eine Frequenz, die mit entsprechend aktuellem Sortiment ausreichte, um zufriedenstellende Umsätze zu machen. So erreichte ein heute nicht mehr existeierender prominenter Laden unserer Branche Berühmtheit, als an einem der damals üblichen „Goldenen Sonntage“ das Geschäft wegen Überfüllung polizeilich geschlossen wurde, und ein Türhüter dann dafür sorgte, dass immer dann, wenn ein Kunde den Laden verließ, ein anderer Zutritt bekam. Unvorstellbar aus heutiger Sicht, aber das ist genau der Zeitpunkt, in dem die heutigen Probleme unserer Branche begannen, denn das war die Zeit, als man beim Handel unserer Branche glaubte, so unentbehrlich zu sein, dass man nicht die Methoden der „Massengeschäfte“ einführen müsste. Bestes Indiz dafür war, dass es einige Einkaufsgenossenschaften gab, aber keine einzig Vermarktungsgemeinschaft. Verkaufen ging von selbst – wichtig war den Führungskräften nur der Einkauf. Viele Hersteller begannen sich daher vom Handel zu lösen, erst vom Großhandel und dann auch an einigen Standorten vom Einzelhandel – Stichwort „Flagship Stores“! Und pfiffige Immobilienmakler begannen US-Konzepte auf Europa zu übertragen, indem man künstlich Frequenz in Gestalt von Einkaufszentren schaffte. Diese sind ja auch heute noch in Betrieb. In den Anfängen ging dieses Konzept speziell im Umfeld großer Städte auch auf. Noch dazu, wo in den Randgemeinden den Betreibern attraktive Geschenke in Form von Grundstücken und Steuererleichterungen gemacht ­wurden, der Staat großzügige Verkehrsanbindungen schaffte. Sehr zum Leidwesen der betroffenen Städte, die unter dem Abfluss der Kaufkraft zu leiden begannen und plötzlich mit dem Problem konfrontiert wurden, dass in einzelnen Einkaufsstraßen nicht mehr alle bestehenden Geschäfte vermietet werden konnten. Die Anziehungskraft und damit die Frequenz in der City begann zu verblassen.
Speziell in den Außenbezirken wurde es immer schwieriger. Zuerst verschwanden die Lebensmittelhändler, die Fleischer, die Bäcker und wurden durch Supermärkte ersetzt. Die hatten eine gut gefüllte Kriegskasse und konnten alle Kundenschichten mit dem nunmehr besseren Zauberwort „Sonderangebot“ in die Läden locken, und das mit Produkten des täglichen Bedarfs. Wie wir wissen, kann man heute so ziemlich alles dort bekommen – vom Mobiltelefon, über Computer bis zur Oberbekleidung zu Ramschpreisen. Geschickt agierte man auch mit einer Zeitspanne, in der derartige „Sensationen“ zu haben waren. Ein Effekt, der den Jagdtrieb anfachte und zudem erreichte, dass die Konsumenten auf das wöchentliche „Bulletin“ aller Märkte im Briefkasten warteten, um ihre Einkaufstermine zu planen. In Millionenauflagen wurden Woche für Woche potenzielle Kunden beworben. Und mit der Zeit gaben auch prominente Marken unserer Branche (wahrscheinlich notgedrungen) ihre Zurückhaltung auf und lieferten Markenprodukte für die allgemeine Schnäppchenjagd.
Und was hatte der mittelständische Einzelhändler dem entgegen zu halten? Die noch funktionierenden Frequenzlagen in den attraktiven Innenstädten wurden so teuer, dass sie in unzähligen Städten für GPK-Händler nicht zu halten waren bzw. es lukrativer war, das Geschäft zu verkaufen. Wir brauchen nicht zu erwähnen, dass keine dieser uns bekannten Transaktionen zu einem neuen GPK-Geschäft wurde. Die Produkte hatten statistisch gesehen an Strahlkraft und damit an wirtschaftlichem Erfolg verloren. Wenn man noch hinzufügt, dass die Einkaufszentren mittlerweile ebenfalls an Käuferschwund zu leiden beginnen, ganz zu schweigen davon, dass ja nur ganz wenige Handelshäuser unserer Branche dort vertreten sind, dann muss man resignierend eingestehen, das das früher erfolgversprechende Zauberwort „Frequenz“ für den GPK-Bereich keine Garantie mehr ist. Die Industrie muss mittlerweile auch zugeben, dass ihre Vertriebsschienen die Marke nicht forcieren, sondern nur benutzen. Und wie in allen Branchen lassen die Handelsketten Marken einfach fallen, wenn es ihnen gelingt, Alternativen etwa auch mit Eigenmarken, zu kreieren. Wenn Sie z. B. wahllos in den Möbelhandel blicken, dann entdecken sie Angebote, wie: eine Trinkglasserie per Stk. € 1,–, oder ein 62-teiliges Kombiservice, Porzellan mit Dekor um € 45,– oder ein 4-teiliges Gläserset einer sehr prominenten Glasmarke (Inserat mit Logo verziert) mit einem Rabatt von 55 Prozent usw. Was man damit allerdings erreicht hat – und da muss man schon auch die Kurzsichtigkeit des Managements dieser Lieferanten ins Treffen führen – ist, dass man damit alle Marken kaputt macht. Nicht wegen des Images, sondern einzig und allein dadurch, dass jetzt alle Konsumenten bei Durchsicht des Angebots feststellen werden, dass es ganz billiges Geschirr auch tut und man nicht unbedingt einen Haufen Geld für den kaum mehr gebrauchten „Gedeckten Tisch“ ausgeben muss.
Wenn jetzt auch noch die Onlineshops mit dem Einkaufserlebnis 24 Stunden am Tag mitmischen, wird es noch schwieriger. Und wenn anerkannte Experten dem Einzelhandel raten, auch im Internet eigene Shops zu eröffnen, da spielt man fast schon ein wenig Lotto mit Joker. Denn man muss bedenken, dass der Erfolg der derzeitigen Marktführer auch an der massiven, ständigen Werbung über alle Grenzen hinweg liegt. Werbung im Netz kann ja grundsätzlich nie schaden, aber denken Sie bitte daran, dass Sie den Leuten durch Werbung vermitteln müssen, warum Ihre Website einen Besuch wert wäre – und das zur besten Sendezeit im TV.
Wir haben kein Patentrezept für eine Renaissance des Wirtschaftssegments „Gedeckter Tisch“, aber eine winzige Anregung: Hersteller und Handel könnten doch vielleicht einmal gemeinsam darüber reden, ob man nicht etwas gegen diese abwertenden gesellschaftlichen Trends tun könnte. Im Rahmen der Verbände oder Gründung einer Fördergemeinschaft, ohne von vornherein schon den Fehler aller bisherigen Gemeinschaftswerbungen zu begehen, einfach zu sagen: „Wenn diese Werbung erfolgreich ist, hilft sie ja auch meinem Konkurrenten“. Das stimmt zwar, aber im gleichen Boot zu sitzen, heißt auch, kräftig gemeinsam zu rudern …

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