Dienstag, 8. Juni 2021

Das Auge als Mitesser

      




Können Sie diese Phrase bei Kochsendungen auch nicht mehr hören?: „Das Auge isst mit!“  Was soll das eigentlich heißen? Dass das Essen nicht angebrannt sein soll oder Spinat grün und nicht grau serviert werden darf? Dass man keine ausgeschlagenen oder schmutzigen Teller verwenden sollte?

Die hochverehrten und noch höher dekorierten Köche beantworten das meist damit, dass die einzelnen Komponenten (so nennt man jetzt die verschiedenen Zutaten , früher auch als Beilagen bekannt) möglichst surreal auf einem eigenwilligen Untergrund zu platzieren seien. Es gibt berühmte Fernsehköche, die dazu einfachste weiße Teller benutzen, was allerdings unserer Branche besonders weh tut …

Es ist naheliegend, dass wir das immer aus der Sicht unserer Hersteller sehen, denn die haben sich bei der Gestaltung ihrer Produkte sicher Gedanken gemacht, genau wie jetzt die aufregenden Hauben-, Sterne- oder Sonstwasköche es getan haben werden. Aber es ist schwierig, diesen Gedankengängen zu folgen. Wer sich bei den viel Kochshows umsieht, der wird immer mehr damit konfrontiert, dass Kreativität auch darin besteht, die diversen Saucen mit dem Pinsel aufzutragen oder Türmchen verschiedener Komponenten zu bauen, die dann inmitten von punktuell aufgespritzter Mayonnaise dem hungrigen Gast entgegenragen. Mir persönlich geht es auf die Geschmacksnerven, wenn aus Gründen der optischen Kreativität der Essig des Salats auf meinen panierten Fisch rinnt – so kreativ kann das gar nicht aussehen, dass ich als hoffnungsloser Fan von Omas Köstlichkeiten nicht im wahrsten Sinne des Wortes sauer werde. 
Das Auge also fordert nach neuester Erkenntnis der hochgelobten Kochstars Kollagen am Teller, die dann fast unweigerlich zum Eintopf werden, wenn erst einmal Gabel und Messer im Einsatz sind. Das kann man sehr gut bei einer Sendung mit Hobbyköchen beobachten, die einander ein heißes Wettkochen liefern. Dies immer unter Anleitung eines hochdekorierten, moderierenden Kochs und eines gestrengen, ebenso dekorierten Maestros, der die Resultate verkostet und benotet. Da wird den Kandidaten immer empfohlen, besonders wirkungsvoll anzurichten weil, genau, das Auge mitisst und der Sternejuror besonders darauf achtet. Und dann beginnt die Verkostung. Innerhalb weniger Minuten ist das elegant kreierte Gericht ein Schlachtfeld. Weil nämlich der Juror die einzelnen Komponenten schmecken und beurteilen will und weil das Gericht meist kein Eintopf ist, was bedeutet, dass man die vielen Richtungen herausschmecken will und soll. Das war übrigens etwas, das unsere Porzelliner in der Vergangenheit immer bei der Produktplanung berücksichtigt haben – sie haben sich nämlich etwas dabei gedacht. Und das war nicht unbedingt „das Auge isst mit“!
Ein Teller ist ein Teller, ist ein Teller! Aber es ist schon von Bedeutung, was er aufnehmen soll. Und so entstanden im Lauf der Zeit die unterschiedlichsten Varianten, bereit, alle Kreationen kreativer Köchinnen und Köche aufzunehmen. Selbstverständlich auch Modelle, die verhindern sollten, dass sich unterschiedliche Flüssigkeiten mischen könnten. Denken wir nur an die hilfreichen Fondueteller oder die Ausgabe für das berühmte Holsteinschnitzel. Oder in unseren Breiten die nicht wegzudenkenden Menüplatten, die in Werksküchen dafür sorgten, dass hungrige Arbeitskräfte (und nicht nur die) keine „verwässerte“ Hauptspeise essen mussten. Sicher nichts fürs mitessende Auge, aber eben speisengerecht. Natürlich haben viele Länder unterschiedliche Methoden, nationale Küche zu zelebrieren. Das gilt sowohl für das Servieren als auch für den Verzehr. Wir hatten einmal Besuch von amerikanischen Sportlern, die erfahrungsgemäß immer hungrig sind. Wir beschlossen diesen „Burgerfreunden“ einmal so richtig deftige Alpinküche zu kredenzen – einen Bauernschmaus. Unsere amerikanischen Freunde machten uns schon mit dem Schneiden, Weglegen des Messers, Handwechsel zur Gabel usw.völlig fertig. Aber dabei wurde auch jedes einzelne „Gericht“ separat verspeist, und heimlich wurden Fragen über die Reihenfolge dieses „Menüs“ gestellt. Aber nicht einer aus der Runde kam auf die Idee, gemixt zu essen.
Es hängt also auch viel davon ab, wo man ins Restaurant geht, welche Art von Küche gepflegt wird und wie traditionell das Haus verwurzelt ist, denn worüber wir hier ein bisschen lästern, ist eigentlich die moderne Art der Gastronomie – das Tellerservice.
Wie eben üblich unter uns Experten, kaum behandelt man ein Thema in der Tiefe, schon ist Abschweifung Pflicht. Eigentlichen reden wir über die Optik, und schon sind wir bei der Funktion gelandet. „Form follows function“ hieß es gerne bei Designfreaks, „look follows fiction“ scheint heute die Devise bei der Esskultur zu sein. Also sehen wir uns die Gastroszene aus der ökonomischen Sicht an. 
Es gibt heute kaum noch Lokale, die wie in der „guten, alten Zeit“ noch Speisekarten haben, auf der das eine oder andere Gericht gestrichen ist – „leider aus“. Das kennen viele gar nicht mehr, war aber ein Indiz dafür, dass damals frisch gekocht wurde. Auch ist das sogenannte Vorlegen mehr oder weniger abgeschafft. Nur noch fitte Senioren erinnern sich daran, dass es Zeiten gab, wo man seine Bestellung auf Platten, Schüsseln und ähnlichen Gefäßen serviert bekam und sich dann seinen „Teller“ selbst, also die Mengen der einzelnen Komponenten nach sehr persönlichem Gusto zusammenstellte.
„Bitte mir weniger Kartoffeln, aber dafür mehr Kraut“, dieser Wunsch würde heute im Restaurant das komplette Personal überfordern. Im Zuge der vielen Rationalisierungsschritte kam es schlussendlich zum Tellerservice und damit zu jenem Zustand, wie wir ihn heute kennen. Natürlich gibt es noch Lokale mit Plattenservice, so mancher Chinese macht das noch immer, aber im großen und ganzen ist das früher als „Friss Vogel oder stirb“ bezeichnete Service üblich geworden. Kein Mensch würde das heute noch als Kantinen-, Gefängnis- oder Militärservice bezeichnen, außer er ist völlig nos-talgisch. 
Im privaten Haushalt ist diese Art des Servierens üblich, haben sich doch die gemeinsamen Familienessen der modernen Arbeitswelt angepasst und damit auch für Erleichterung der Hausfrau im Alltag gesorgt. Heute sind daher auch für viele Teilnehmer am gemeinsamen Essen früher übliche Gegenstände wie z.B. eine Suppenterrine, eine Gemüseschüssel, eine Fleischplatte, eine Sauciere und ein gut sortiertes Vorlegebesteck exotische Produkte. Was ursprünglich geschaffen wurde, um gemeinsames Speisen individuell und sehr persönlich ausüben zu können, ist verschwunden oder zur Seltenheit geworden. 
Anstatt dem „Auftischen“, also dem Servieren auf dekorativen Serviergeräten, ist es der fertige Teller geworden, kein Wunder also, dass die Hauben-, Sterne- und sonst wie bedeutenden Köche das Anrichten in kreativem Genre erfunden haben, um so zumindest den Unterschied zur „Teller auf den Tisch geknallt-Gas-tronomie“ wahren zu können. Und dieser mit Essen zu dekorierende Teller braucht eben keine besondere Gestaltung, Hauptsache uni und dicht.
Wir sehen es täglich in den unzähligen Kochsendungen, wie man sich heute Tischkultur vorstellt. Das sind die Leitbilder, die sich vor allem bei jungen, nicht traditionell orientierten Menschen einprägen. Wenn ein britischer Kochstar seinen Eintopf auf einem Brett dekoriert und so eine Servierplatte nachempfindet, ist das heute schon fast höfisches Bankettservice. Ein hochdekorierter österreichischer Koch hat zu den Ritualen bei Tisch ziemlich erbost gemeint, dass er „… diese Besteckaltäre bei Tisch hasst“, weil sie Aufmerksamkeit von seinem eben kreierten Gericht wegnehmen. 
Für die Verfechter schulmäßiger Tischkultur sei also angemerkt, dass man mit Unterstützung der Spitzenköche und ihrer sehr populären TV-Sendungen nicht rechnen kann. Auch den vielen bemühten Gestaltern von Dekoren sei ins Stammbuch geschrieben, dass dekoriertes Geschirr offenbar nicht telegen genug ist, denn kaum jemand verwendet es gezielt für Fotoshootings oder Auftritte vor einer Kamera. Das Auge isst offenbar nur dann mit, wenn jemand im Stile surrealer Genussbereitschaft Hand angelegt hat. Designer, Stylisten, Grafiker und sonstige in der Industrie beschäftigten Kreativen können heute augenscheinlich nichts mehr zu diesem Thema beitragen. Ein Trend, der sicher nicht dazu beiträgt, vernünftige Markenpolitik in einem umkämpften Markt zu betreiben, noch dazu, wo Tafelkultur in unserem Sinne ja weltweit eigentlich ein Minderheitenprogramm ist. Nicht alle Augen essen also mit – eigentlich schade, oder?

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