Donnerstag, 25. August 2022

Frequenz ist alles

  


Foto: Ryoj Iwata | Unsplash

So nannte in einer österreichischen Tageszeitung der Handelsforscher Hannes Lindner (Standort+Markt) die wichtigste Voraussetzung für stationäre Geschäfte. Etwas, das offen­sichtlich bei vielen Planungen vor allem des mittelständischen Handels entweder unterschätzt oder aber aus wirtschaftlichen Überlegungen hintan gestellt werden musste …


Die Beispiele speziell in unserer Branche, wo Unternehmer ihren Läden vermieteten, weil sie mit der Miete mehr Gewinn machten als mit der Führung des Ladens, sind legendär. Frequenz ist also nicht alles, aber ohne Frequenz ist alles nichts. Leider. Aber der Kampf um Frequenz ist nicht nur eine Standortfrage für den Handel, sondern ist mittlerweile auch ein ökonomisches Problem für Kommunen und die Immobilienwirtschaft geworden.


Die Leerstände in den Geschäftsstraßen steigen kontinuierlich an. Mit jedem leeren Laden verliert die Geschäftsstraße ihre Bedeutung, sie verliert an Frequenz, denn der Besucherstrom wird dünner. Sämtliche Handelsketten könnten das sogar ziemlich genau belegen, wenn sie wollten und das Geld dafür ausgeben würden, denn eine Frequenzmessung kostet eben. Viele von uns werden sich noch erinnern, wie in den 50er-Jahren die Hochkonjunktur am Handelssektor auszubrechen drohte und als an belebten Orten einer Stadt Leute herumsaßen, die eigentlich nichts anderes machten, als die vorbeiströmenden Mitbürger zu zählen. Das, unterteilt nach Tageszeiten, ergab in einer normalen Woche so etwas wie einen Frequenzindex, also die Anzahl potenzieller Leute, die das (neue) Geschäft zumindest einmal zur Kenntnis nehmen konnten. Hineinbringen ist eine andere Geschichte, aber zuerst müssen Menschen vor dem Lokal stehen. Und für dieses „stehen“ haben die Architekten das Schaufenster erfunden. Auch hier wurde nach der Eröffnung gezählt und Zeit gestoppt, um festzustellen, wie lange ein Konsument durchschnittlich die Auslage angesehen hat. Ein relativ geringer Zeitraum, was zwischen Schaufensterdekorateuren, die mit optischen Mitteln konzentriert wenige Produkte in den Fokus rücken wollten, und den Verkäufern, die möglichst viele Produkte ins Licht rücken wollten, zu heftigen Diskussionen führte. Es ist schon lange her, aber die Bedeutung von Schaufenstern ist in unserer Zeit des Fernsehens und der unzähligen Hochglanzmagazine längst überholt. Der Kampf um die Frequenz um und im Laden geht aber heftiger denn je weiter.
Es ist ein seit langem ein im Hintergrund laufender Fight, in dem die unterschiedlichsten Parteien involviert sind: Da sind einmal die Städte, die nicht nur die Kaufkraft in ihren Mauern halten, und auch Stadtteile, die ein pulsierendes Leben haben wollen, und das nicht nur durch Touristen; abgesehen von den Steuereinnahmen, die reichlich von der Immobilienwirtschaft kommen. Da sind die meist global agierenden Handelsketten, die zwar die besten Plätze wollen, aber natürlich um jeden Cent für die Miete feilschen, aber sichere Partner sind, was die Mietdauer betrifft. Diese Ketten haben ein einfaches Prinzip: Jede überregionale Werbung wirbt für jeden Standort. Eine epochale Erkenntnis, die so manchen Familienbetrieb kaputt gemacht hat, der dabei nicht mitkam. Diese Ketten belegten alles, was an guten Standorten überhaupt nur möglich war. Man scherzte seinerzeit, dass von Helsinki bis Lissabon alle Fußgängerzonen gleich aussehen. Übertrieben? Ein wenig, aber das lokale Kolorit litt und leidet eminent darunter. So waren in den Anfängen in der unmittelbaren Innenstadt in Wien gleich drei Eduscholäden präsent. In der selben Gegend gab es damals auch noch fünf GPK-Shops der gehobenen Klasse. Davon gibt es heute leider nur mehr einen. Dafür haben sich die touristisch orientierten Geschäfte und die sogenannten Luxusmarken ausgebreitet. Wer daher in diesen Regionen von der hervorragenden Frequenz spricht, muss in seiner Bilanz die Nationalität der Besucher oder ihre inländische Herkunft berücksichtigen. Dafür gibt es in diesen absoluten Zentren kaum Leerstände, dafür aber ein stetiges Verschwinden von sehr traditionellen und lokalen Größen und eine realtiv rasche Fluktuation.
Es ist ein allgemeiner Trend, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, was bei der Planung der alten Einkaufszentren absolut noch kein Thema war. Riesenparkplätze und von der öffentlichen Hand großzügig geförderte Autobahnzubringer förderten nicht nur die Mobilität, sondern auch den Abfluss von Kaufkraft aus den Städten, hin zum Speckgürtel von Nachbargemeinden. Heute, in der Diskussion um Reduzierung von Emissionen, wird man nicht nur bei der Benutzung von Flugzeugen, sondern auch bei einer Einkaufsfahrt mit eigenem Fahrzeug zum Schämen aufgefordert. Dass das Wirkung zeigt, kann man am Beispiel von IKEA ablesen. Das Unternehmen hat vor vierzig Jahren in der Nähe von Wien seinen ersten Laden eröffnet und sprach damals davon, nur in Regionen zu bauen, wo man 2,5 Millionen potenzielle Kunden erreichen kann. Seit Kurzem gibt es auch im durchaus noch inneren Stadtgebiet von Wien ein IKEA-Center. Ökologische Gründe werden daher in Hinkunft bei der Planung von neuen Großgeschäften sehr wichtig sein.
Jetzt treten wir der nahen Vergangenheit näher. Einige der größten Frequenzbremsen, Onlineshops und Versandhandel , erleben eine nahezu sagenhafte Hochkonjunktur. Bleiben wir in Wien, wenn wir schon andere Beispiele aus der Hauptstadt verwendet haben – Wien liebt den Onlinehandel. Laut einem Bericht des „Kurier“ werden in Wien täglich 350.000 Pakete ausgeliefert. Das sind, laut diesem Bericht, rund 109 Pakete pro Haushalt. Das wären im Jahr rund 128 Millionen Stück und das soll laut Vorhersagen der Experten bis zum Jahr 2030 auf 200 Millionen Sendungen steigen. Wir dürfen durchaus annehmen, dass diese Pakete nicht allzu häufig mit Produkten für den täglichen Bedarf gefüllt sind. Das würde (versuchen wir es ruhig einmal mit einer Milchmädchenrechnung) bedeuten, das von jedem Wiener Haushalt 109 Pakete im Jahr in der Einkaufsfrequenz der Wiener Einkaufsstraßen fehlen – und natürlich auch der entsprechende Umsatz fehlt. Das ist noch nicht erschreckend, wenn man bedenkt, dass dabei kein Auto- oder Möbelkauf dabei ist, aber spüren wird man es schon. Also hat man jetzt die Gegenmaßnahme Patriotismus entdeckt: Wenn Du schon fremd gehst, dann bitte national!
Unser Applaus zu dieser genialen Strategie hält sich in Grenzen, speziell wenn man bedenkt, dass dieser „Frequenzfeind“ längst begonnen hat, sich zusätzliche Saisonen und zusätzliche Frequenz zu verschaffen. Die berüchtigten „Schwarzen Freitage“ und ähnlich rebellische Kurzaktionen sind recht erfolgreich und haben dem stationären Handel durchaus beachtliche Zusatzumsätze gebracht. Auch die vom Lebensmittelhandel ausgegebenen und vom Konsumenten bereits sehnsüchtig erwarteten „Rabattmarken-Karten“ werden im Bedarfsfall sportlich von den Gratiszeitungen geklaut, Rabattaktionen am Wochenende sind bereits Alltag. Die fast schon in Vergessenheit geratenen Aktionen von Tschibo (einst Eduscho), die nur einen kurzen Zeitraum gelten, gehören auch zum Thema Frequenzsteigerung. Im Handel eher unterschätzt, hat der deutsche Kaffee-röster immer wieder für beachtliche Umsatzanteile speziell in unserer Branche gesorgt. 
Schon seit 2014 hat sich Onlinegigant Amazon etwas ganz Besonderes einfallen lassen, den „Abonnenten“, also Bindung ans Unternehmen, anstelle des täglichen Kampfes um notwendige Frequenz. Man muss es den Leuten lassen: Wie man das Business ankurbelt, steigert und hält, das haben die drauf. Wer also „Prime-Abonnent“ werden will, muss vorher einen Mitgliedsbeitrag zahlen, der liegt ungefähr bei EUR 70,– pro Jahr und kann jederzeit gekündigt werden. So weit und so einfach, und es werden durchaus ganz annehmbare Leistungen geboten, wie kostenloser, bevorzugter Versand, den Streaming-Dienst „Prime Video“, „Amazon Music“, ausgewählte Bücher über Prime-Reading, gratis PC-Spiele und unlimitierter Speicherplatz für Fotos. Aber der tatsächliche Frequenzhammer ist, dass am sogenannten „Prime Day“ nur Abonnenten Zugang zu den zwei Tage lang angebotenen exklusiven Angeboten haben. Eine Schnäppchenjagd der Sonderklasse. Das macht natürlich auch Zeitdruck und führt wie selbstverständlich zu ungeplanten Einkäufen. Diese Art der „Entdeckung“ von Gelegenheitskäufen unter Zeitdruck ist auch bei anderen derartigen Unternehmen, aber auch bei den Großen im stationären Handel, durchaus üblich. Denken Sie an den bereits erwähnte „Black Friday“ etc. Die Taktik „Frequenzsteigerung durch Okkasion und Zeitdruck“, breit beworben, ist längst ein unglaublicher Wettbewerbsvorteil gegenüber den mittelständischen stationären Betrieben geworden. Der „Kurier“ hat in einem Artikel aufgezeigt, wie stark sich z.B. bei Amazon diese Methode zu Buche schlägt: Man hat 2020 beim Prime Day rund EUR zehn Mrd. eingenommen. Und wie man lesen konnte, verfügt Amazon derzeit bereits über 200 Mio. Abonnenten. Alleine mit den Mitgliedsbeiträgen von rund EUR 14 Mrd. lassen sich schon einige Werbekampagnen und Sonderrabatte finanzieren – und dagegen will man mit patriotischer Gesinnung und „gutem Gewissen beim Einkauf“ punkten? Es wird eine Menge an Ideen und Projekten brauchen, um zumindest die Frequenz in den Citylagen abzusichern, wenn man vom normalen touristischen Geschäft einmal absieht und wenn man endlich auch steuerliche Wettbewerbsgleichheit schafft. Aber das dauert, und in der Zwischenzeit wird auch das Fernsehen immer stärker von den Onlineriesen vereinnahmt. Und dann haben die eine Gratiswerbung wie sonst niemand und verdienen damit auch noch Geld, aber das wäre wieder eine ganz andere Geschichte …

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